Ab dem Folio 437r stammen die meisten der Malereien des
Breviers von Isabella der Katholischen von Gérard Horenbout und seiner Werkstatt, was etwa einem Drittel der in diesem Kodex zu findenden entspricht. Auf dieser für den Vorabend von Allerseelen ist die Auferweckung des Lazarus dargestellt worden: auf der linken Seite befindet sich eine von Jesus angeführte Menschengruppe vor dem Stadttor. Jesus macht mit seiner rechten Hand eine vielsagende und segnende Gebärde, wird von Maria und Marta begleitet, zu seiner Linken kniend, und einer hochrangigen Autorität zu seiner Rechten begleitet, hinter der ein Mann sich mit der Hand Nase und Mund zuhält, um den Leichengeruch zu vermeiden; in der Mitte steigt Lazarus, nachdem der Stein weggerollt wurde, halbnackt aus dem Grab – das Schweißtuch bedeckt dabei einen Teil seines Körpers -; schließlich beobachten rechts drei Männer – zwei von ihnen kann man wegen der mitgeführten Spaten als Totengräber identifizieren – und einer von ihnen kommentiert das Wunder. Die mit vorzüglicher Nüchternheit und Sensibilität gestaltete Landschaft im Hintergrund zeigt verschiedene Bäume und Anhöhen, die in der Ferne bläulich schimmern. Malerei und Text werden von einer in goldenem Kamee gemalten Randverzierung gesäumt, aus der verschiedene Blumen und Früchte heraustreten, deren Farben auf die der zentralen Miniatur abgestimmt sind, die zwei Totenköpfe umschließen. Der unten in der Mitte trägt oben ein Spruchband, auf dem zu lesen ist: «memento mori»; auf dem auf der rechten Seite ist geschrieben «respice finem».
In der frühchristlichen Kunst wurde die Auferweckung des Lazarus als ein Vorgriff auf die Auferstehung Christi und der Toten am Jüngsten Tag ausgelegt. Für die ersten Christen war es die Inkarnation ihrer Hoffnung auf Auferstehung und ewiges Leben. Dies ist der Grund, weshalb sie so häufig in Katakomben und auf Sarkophagen des 3. und 4. Jahrhundert dargestellt wird.
Die älteste Kompositionsregel umfasst Christus, Lazarus, eine oder zwei seiner Schwestern und einen Apostel. Die ersten Darstellungen dieses Wunders finden sich auf frühchristlichen Glasschalen und auf den gegen 240-250 entstandenen Fresken in den Kapellen der Calixtus-Katakombe in Rom. In der syrisch-palästinensischen Kunst entstand jedoch ein Modell mit zahlreichen Gestalten und es blieb in dem aus dem dritten Viertel des 6. Jahrhunderts stammenden
Codex Pupureus Rossanensis (Rossano, Bibliothek des erzbischöflichen Palastes) erhalten; die Gruppe von Juden und Aposteln, die Christus zum Bestaunen des Wunders begleitet, kann dabei mehr oder weniger zahlreich sein. Seit dem 6. Jahrhundert wird es immer eine Gestalt geben, welche die Hand vor Nase oder Mund hält. Im 11. Jahrhundert setzt sich eine neue Formel durch, welche die wesentlichen Bestandteile für das Bild in der gotischen Epoche beisteuern wird: die Öffnung des Sarkophags und die Anstrengungen des Auferweckten, selbst aus dem Grab zu steigen, weist ikonographische Parallelen zur Auferstehung der Toten auf dem Bild vom Jüngsten Gericht auf. Lazarus ruht in einem Steingrab; im Gegensatz zu früheren Werken erhebt sich der in ein Schweißtuch gehüllte Oberkörper ganz leicht. Auf den Bronzereliefs der Hildesheimer Christussäule wird Lazarus zum Zeitpunkt der Auferweckung dargestellt. Dabei erhebt er sich nackt aus dem Sarg, schaut Christus an und antwortet auf seinen Ruf mit der Gebärde der zum Gebet gefalteten Hände. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert griffen die flämischen Maler dieses Thema erneut auf. Neben dem Sarg, in dem sich der auferweckte Mann aufrichtet, wurde es immer häufiger, eine Grube darzustellen und Lazarus setzt sich sowohl auf die Öffnung als auch auf den Stein.